Ich hatte mein „Wofür“ verloren und fand im Wald mein Ich

Der heutige Tag begann, wie die meisten der vergangenen Tage: Ich hatte eine unruhige Nacht, das Implantat im Fuß schmerzte und ich hatte, wieder einmal, keinen Bock, den Tag überhaupt zu beginnen. Seit meinem Unfall vor über fünf Monaten (jetzt, da ich das schreibe, fällt mir auf, dass ich exakt heute vor fünf Monaten operiert wurde) weiß ich gar nicht mehr, was ein schmerzfreier Tag ist. Das kann einen schon zermürben.

Zudem quälten mich seit Tagen wieder die Gedanken, wie es denn mit mir beruflich weitergehen wird. Das Projekt, in dem ich bis zu meinem Unfall tätig war, war genau das, was ich liebte: Menschen im Einzelcoaching zu begleiten, sie mental und psychisch aufzubauen und ihnen auf dem Weg zu einem beruflichen Abschluss (erstmalig oder auf dem zweiten Bildungsweg) unterstütztend zur Seite zu stehen. Doch das Unternehmen, für das ich tätig war, vereinbarte mit mir eine Trennung, was für mich den Schluss zulässt, dass eine Rückkehr nicht möglich sein wird. Sich jetzt neu auf die Suche zu machen, ist angesichts der Tatsache, dass ich das Implantat baldmöglichst entfernen lassen und im Anschluss die, wegen des positiven PCR-Tests abgesagte, Reha nachholen möchte, nur teilproduktiv (erst benötige ich die fixen OP- und Rehadaten). Sich zu 100% in die Selbständigkeit zu stürzen, ist angesichts der Wirtschaftslage hoch riskant, zudem war ich schon einmal selbständig, was leider nicht so gut gelaufen ist und entsprechende Unpässlichkeiten zur Folge hatte. Diese Gedanken, gepaart mit den täglichen Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit der aktuellen, nationalen und internationalen Krise, begünstigen nicht unbedingt einen lebensbejahenden und freudvollen Alltag, nicht wahr?

Etwa um 09:00 kroch ich dann doch, mehr schlecht als recht und vollkommen übermüdet, aus dem Bett und widmete mich dem Haushaltsalltag: Wäsche waschen, kochen, putzen, aufräumen. Wie langweilig und öde! Die Haushaltsführung zählt nicht gerade zu meinen Leidenschaften. Ich empfinde es leider viel zu oft als etwas, das eher Leiden schafft. Seit geraumer Zeit schon vermisse ich den Elan, den ich früher hatte, die Freude, sich einem zukunftsträchtigen Projekt zu widmen oder etwas Neues zu gebären, sich ein Ziel zu setzen und es zu verfolgen oder wenigstens die Dinge, die man nicht so gerne macht, doch mit ein wenig Esprit zu erledigen, schließlich habe ich doch auch wieder den Anspruch an mich selbst, dass alles sauber, die Familie gut versorgt und der Haushalt in Ordnung ist.

Wenigstens nahm ich mir heute wieder etwas Zeit für mich – nichts Selbstverständliches – und entschied mich für ein Entspannungsbad, in der Hoffnung, es könnte mich berauschen. Doch mit Berauschen war nicht viel. Vielmehr verlor ich mich in meinen trüben Gedanken und in der Trauer ob des kürzlichen Verlustes eines mir sehr wichtigen Freundes, der für mich der große Bruder, den ich nie hatte, war. Sein kürzlicher Tod erschütterte mich doch tief.

In dieser Tristesse gefangen, spulte ich also die Stunden des Vormittags und des frühen Nachmittags herunter und fühlte mich mehr als funktionierende Maschine denn als menschliches Wesen.

Gegen 13:00 war ich soweit mit Allem fertig und blickte das erste Mal auf mein Handy und sah, dass mich mehrere Menschen zu erreichen versucht hatten. Obwohl ich seit dem Kochen den Ruf des Waldes vernahm, widmete ich mich zunächst noch den Anrufen. Vielleicht versuchte ich eine Ausrede zu finden und Zeit zu schinden, um dann heute doch nicht rauszugehen und meinen notwendigen Aktivierungsspaziergang zu machen. Eine angepisste und leidenschaftslose Stimme in mir meinte ohnehin schon den ganzen Tag: „Es ist ja egal, was ich wann oder wie mache. Ich weiß sowieso nicht mehr, wofür ich das, was ich tue, überhaupt tue.“

Die Telefonate beschäftigten mich über eineinhalb Stunden, dann wollte ich mich für meinen Spaziergang fertigmachen, da fiel mir auf, dass ich noch nicht staubgesaugt hatte. Also machte ich auch das noch und fand mein Wunscharmband, welches mir am Tag davor abgegangen war (das muss auch so sein, damit der Wunsch in Erfüllung geht, war ein Weihnachtsgeschenk von meiner Schwiegertochter), am Vorzimmerboden liegen. Ich hob es auf und steckte es in meine Manteltasche. Im Wald würde ich es dann vergraben oder an einen Baum hängen, denn ich hatte es so verstanden, dass man definitiv nicht daran festhalten sollte, nur so könne der Wunsch in Erfüllung gehen. Ich gebe jedoch zu, dass ich kurz daran gedacht hatte (vor allem deshalb, weil mir der kleine Stein, der auf der dünnen Kordel angebracht war, so gut gefallen hat), das Armband aufzubewahren. Das wäre typisch für mich, denn mit dem Loslassen habe ich es nicht so. Aber nein, dieses Mal nicht, das Armband wurde zum Loslassen eingepackt.

Nach dem Staubsaugen war meine Stimmung am absoluten Tiefpunkt. Es war, als hätte ich meinen Lebensantrieb, meinen Lebenswillen, meine Lebensfreude endgültig verloren. Ich wollte niemanden anrufen und auf den Nerv gehen, doch ich musste ausdrücken, was ich in mir fühlte, also nahm ich das Handy und schrieb auf Facebook: „Ich habe komplett mein Wofür verloren. Für sachdienliche Hinweise bin ich dankbar.“ Ich veröffentlichte das Posting, schaltete das WLAN ab, stellte mein Handy auf lautlos und steckte es in die Manteltasche. Dann zog mich warm an und machte mich auf den Weg in den Wald.

Vom ersten Schritt weg war mir nur zum Heulen. Der Weg zu dem Wald, der mich rief, führte mich durch einen Teil meines Heimatortes und ich verkniff mir das Weinen, es wäre mir unangenehm gewesen, hätten mich spazierengehende Mitbewohner*innen verheult gesehen. Zum Gefühl der tiefen Traurigkeit und einer Art von Orientierungslosigkeit gesellte sich zudem ein heftiger innerer Zorn, weil mein Fuß bei jedem Schritt schmerzte. Am liebsten hätte ich mir das Implantat rausgerissen. Wenn ich es doch nur nicht mehr in mir hätte!

Nach einer Weile des Gehens fiel mir ein, dass das Posting auf Facebook unvollständig verfasst war. Wofür sollten mir die Leserinnen und Leserin, die vielleicht die Muse haben, mir etwas zu schreiben, sachdienliche Hinweise geben? Also nahm ich mein Handy aus der Manteltasche und wollte die Worte „zur Wiederfindung“ in den Satz einfügen, da sah ich, dass ich einen Anruf in Abwesenheit von meiner lieben Freundin Claudia hatte. Ich stöpselte meine Kopfhörer in meine Ohren und rief zurück. Claudia hatte mein Posting gelesen und wollte wissen, was los sei. Ich erzählte ihr von meinem Befinden und sie schenkte mir ihre Zeit. Claudia hat eine besondere Art, Menschen aus ihrem, wie auch immer gearteten, Wahn zu befreien. Ihre Art, wie sie Dinge und Befindlichkeiten betrachtet und wie sie dir deine eigene psychische Dissonanz vor Augen führt, ist unbeschreiblich und stets hilfreich. In den wenigen Minuten, die wir telefonierten, wurde mir einiges klar und ich nahm mir vor, in den kommenden Tagen bewusst daran zu arbeiten und meine Befindlichkeit zu verbessern.

Claudia und ich beendeten unser Gespräch, kurz bevor ich den Wald erreichte. Ich hatte schon beim Telefonat das Gefühl, ich müsste jetzt endlich wirklich losheulen und in dem Moment, in dem ich den Wald betrat, strömten auch schon die Tränen. Ich weinte um meinen Freund, ich flennte wegen meiner Schmerzen, ich schluchzte, weil ich meinen weiteren beruflichen Weg nicht sehen konnte und weil mir, schlicht und ergreifend, nach Heulen war.

Nach wenigen Metern versiegten plötzlich meine Tränen und ich blieb stehen. Dieser Wald, der mir sonst unheimlich und düster erschien, und mir meist auch Angst einflößte, war heute anders. Ich fühlte mich sicher, beschützt, willkommen, aufgehoben. Ich hatte das Gefühl, mein rituelles Tun beim vergangenen Spaziergang hatte hier tatsächlich etwas bewirkt (als ich zuletzt hier war, hatte ich diese tiefe Empfindung, als wäre dieser Teil des Waldes in früheren Zeiten ein Kriegsschauplatz gewesen und viele Seelen hatten hier ihr Leben verloren, darum setzte ich mehrere Lichtsäulen und machte intuitiv ein paar Sachen, die man als „spooky“ bezeichnen könnte, darum gehe ich hier nicht näher darauf ein). Es kam mir fast so vor, als würde sich der Wald bei mir bedanken, was mich sehr berührte und ich bedankte mich beim Wald für sein Vertrauen.

Nach diesem kurzen inneren Mensch-Wald-Dialog setzte ich meinen Weg fort und mit einem Mal hörte ich eine Stimme, die sagte: „Geh links in den Graben hinunter.“

Ich war nicht sicher, was ich da gehört hatte und hinterfragte das in mir Vernommene. Die Stimme wiederholte: „Geh links in den Graben hinunter.“

Links und rechts des Waldweges erstreckte sich ein, etwa einen halben Meter tiefer gelegener, Graben. Ich sah nach links und schaute, wie ich am besten hinunter gehen könnte. Ich entdeckte, dass etwa zwei Meter vor mir ein abgerissener Baumstamm quer über dem Graben lag, den ich nicht übersteigen konnte. Also ging ich zunächst ein Stück in den Wald hinein, um den Baumstamm zu umgehen und danach den Einschnitt zu betreten und darin meinen Weg fortzusetzen. Nach einer kurzen Weile erreichte ich einen kleinen Fluss. Sofort dachte ich, dass dies der richtige Ort sei, um das Wunscharmband loszulassen. Ich nahm es aus meiner Manteltasche, bedankte mich dafür, dass es meinen Wunsch getragen hatte und warf es in den Fluss. Ich vergoss ein paar Tränen, warum, weiß ich nicht, denn eigentlich gab es keinen Grund zu weinen und das Loslassen fiel mir doch recht einfach.

Gerade wollte ich mich wieder auf den Weg zurück zum Waldweg begeben, da hörte ich wieder diese Stimme in mir: „Geh am Fluss entlang.“

Ich sah mich um. Am Fluss entlang schien schwierig zu werden, da der Bereich aus dichtem Gestrüpp und umgefallenen Bäumen bestand. Ich antwortete: „Das geht nicht, da ist alles dicht, da komme ich nicht durch.“

Die Stimme flüsterte: „Geh am Fluss entlang.“

Ich ging ein paar Schritte nach vorne und sah mich genauer um, doch das Verwachsene und Herumliegende nahm mir die Hoffnung. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich da einen Weg durchfinden würde, zudem schmerzte mein Fuß und ich war mir nicht sicher, ob ich angesichts der Schmerzen und der noch immer vorhandenen Bewegungseinschränkungen überhaupt in der Lage wäre, mich da durchzuackern.

Die Stimme sagte wieder: „Geh am Fluss entlang.“

„Na gut“, murmelte ich, „dann werde ich es eben versuchen.“

Vorsichtig tastete ich mich vor.

‚Da könnte ich unten durch‘, dachte ich und machte mich klein.

Ich hörte, wie dürre Äste brachen und entschuldigte mich intuitiv bei den Sträuchern.

Die Stimme meinte: „Manchmal muss etwas brechen und kaputt gehen, damit es weitergehen kann.“

Innerlich bejahte ich, und ohne auch nur im Detail darüber nachzudenken, spontan diesen Satz.

Mit Bedacht tappselte ich voran und wog sorgfältig jeden einzelnen Schritt ab. Die Schmerzen im Fuß erinnerten mich daran, nicht übermütig zu werden. Zwischendurch blieb ich immer wieder stehen und schaute, wo ich am einfachsten vorankommen könnte. Ich nahm wahr, wie ich mich nach jedem Hindernis, das ich überwand, lockerer und befreiter fühlte. Es war mir sogar, als erfüllte es mich mit Stolz, wieder ein Stück weiter gekommen zu sein.

Und dann plötzlich war ich durch. Vor mir erstrahlte ein halb abgerissener Baum im Sonnenschein. Wie magisch zog mich dieser Baumstumpf an. Als ich bei ihm angekommen war, lehnte ich mich an seinen Stamm, atmete mehrmals tief durch und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich fühlte mich frei und froh. Ich spürte unendliche Dankbarkeit für alles, was ich sah und fühlte und ich war immens erleichtert. Ich nahm mein Handy zur Hand und machte ein paar Fotos, ich wollte die Schönheit und Grazie des Moments einfangen.

Da fiel mir plötzlich ein, dass es doch nett wäre, mal wieder zu schreiben. Diese, meine, Geschichte hier wäre ein nettes Werk, das ich mit den Fotos untermalen könnte. Doch ich hatte, bevor ich das Gestrüpp durchwanderte, gar keine Bilder gemacht, demnach wäre der Weg durch das Dickicht, der zu Beginn meiner wahrlich interessanten Wandlung vor mir lag, überhaupt nicht ersichtlich. Also dachte ich bei mir, es wäre gut, zurückzugehen, um die entsprechenden Bilder zu machen. Gedacht, getan! Bei diesem Zurück beobachtete ich, mit wie viel mehr Leichtigkeit, Zuversicht und Sicherheit ich meinen Weg beschritt. Ebenso fiel mir das neuerliche Durchwandern des Dickichts nach dem Fotografieren wesentlich leichter, ich war sogar so mutig und wählte einen Weg, der noch näher am Flussufer lag. Und wieder begrüßte mich der Baumstumpf, der von der Sonne angestrahlt wurde, und ein zweites Mal legte ich mich auf seinen Stamm, genoss die Sonne und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken am Himmel.

Nach einer Weile, die Sonne hatte sich mittlerweile zur Dämmerung zurückgezogen, beschloss ich, meinen Weg fortzusetzen. Ich bedankte mich beim Dickicht und beim Baumstumpf für die wundervolle Erfahrung, die ich hier machen durfte. Ich wollte meinen Weg nun durch den Wald hindurch fortsetzen, da hörte ich wieder diese Stimme: „Geh am Flussufer weiter.“

Dieses Mal hinterfragte ich die Stimme nicht, sondern machte, was sie sagte. Der erste Teil des weiteren Weges war auch ohne Hindernisse und gut meisterbar. Dann wurde es wieder etwas holpriger. Ein dichtes bodennahes Gewächs hemmte mein Vorankommen, ich musste höhere und weitere Schritte setzen, um hindurchzukommen und nicht hängenzubleiben.

„Sieh mal da, links von dir!“, hörte ich erneut die Stimme sagen.

Ein mächtiger Baumstumpf am Flussufer erregte nun meine Aufmerksamkeit. Der Baum, der früher hier stand, war abgerissen und quer über den Fluss, wie eine natürliche Brücke, gefallen. Mit einem Mal fühlte ich eine Art kindlicher Neugierde und Abenteuerlust in mir. Ich ging näher, um das genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Ob ich da wohl rübergehen könnte?“, fragte ich mich.

„Nein, das geht nicht, du kannst mit deinem lädierten Fuß noch nicht einmal normal Stufen steigen oder bergab gehen und jetzt möchtest du über diesen Baumstamm wandeln? Was ist, wenn du ausrutschst und in den Fluss fällst? Weit und breit ist niemand. Auch wenn du um Hilfe rufst, es würde dich niemand hören!“, tönte eine laute Stimme in mir.

„Du hast recht, das war ein dummer Gedanke“, murmelte ich vor mich hin.

Ich wandte mich ab und ging ein paar Schritte in Richtung Wald, doch die Stimme meinte: „Geh zurück, du findest eine Möglichkeit.“

Ich blieb stehen und drehte mich wieder zur Baumbrücke um. Sie faszinierte mich. Die Stimme hatte recht, es wäre sicher möglich, sie zu überqueren.

Ich ging zurück und betrachtete diese, von der Natur erschaffene, Brücke. Ich kniete mich auf den Stamm und versuchte, ein paar Knieschritte zu machen. Doch nach nur wenigen Sekunden brach ich das Vorhaben ab. Erstens war mir das viel zu wackelig und zu unsicher und zweitens schmerzten meine Knie, das würde ich die paar Meter nicht aushalten.

„Was, wenn ich am Popo hinüber rutschen wurde?“, tönte es plötzlich aus meinem Bauch heraus.

„Hey, das ist eine gute Idee! Das könnte funktionieren!“, grinste ich und setzte mich im Grätschsitz auf den Baum.

Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das bereit war, diesen Fluss auf dem Allerwertesten zu überqueren. So aufgeregt, abenteuerlustig und lebensbejahend, wie in diesem Moment, hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich setzte meine Hände vor mir auf den Baumstamm, stützte mich auf, hob meinen Popo und schob mich ein Stück nach vorne.

„Hah, das geht!“, sagte ich laut und lachte.

Noch ein Rutsch und noch ein Rutsch. Das war echt lustig! Mit jedem Stückchen, das ich weiter vorrutschte, fühlte ich mich lebendiger. Mir war, als ob die kleine Alexandra da oben am Baumstamm saß und ihren Spaß mit mir, der großen, erwachsenen Alexandra, hatte.

Etwa in der Mitte angekommen hielt ich kurz inne und dachte bei mir, wie dumm ich doch sei. Ich war außer Atem, die Kraft in meinen Armen ließ nach, dabei hatte ich erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Zurück war es nun also genau so weit wie nach vor, mein Hintern war kalt (die Außentemperatur lag etwas unter Null Grad Celsius, der Schnee vom Vortag war am Stamm angefroren), meine Hose wurde mehr und mehr verschlissen, sie war nass und dreckig, aber wenigstens mein Fuß schmerzte gerade nicht. Ich musste schmunzeln. Wer hätte wohl gedacht, dass aus meinem Waldspaziergang dieses Abenteuer werden würde?

Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob es nicht besser wäre, wieder rückwärts zu rutschen, da ich ja auch gar nicht wusste, wohin ich nach dem Überqueren des Flusses gelangen würde. Dazu meinte meine innere Stimme nur: „Nach vorne geht’s weiter.“

Nach dieser kurzen Gedanken- und Verschnaufpause rutschte ich also weiter vorwärts. Langsam, vorsichtig und mit der Kraft, die mir zur Verfügung stand.

Nach „was-weiß-ich-wie-vielen-Minuten“ war ich endlich am anderen Ufer angelangt. Ich strahlte über mein ganzes Gesicht und am liebsten wäre ich vor Freude in die Luft gesprungen, was ich aber wegen meines lädierten Fußes lieber bleiben ließ. Mein Allerwertester war, im wahrsten Sinne des Wortes, arschkalt und meine Jeans war saudreckig. Hah! So pudelwohl, wie in diesem Moment, hatte ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt! Ich war stolz, es geschafft zu haben, gleichzeitig unendlich glücklich und zutiefst dankbar. Diese Lebendigkeit in mir, die ich schon so lange Zeit vermisste, war berauschend!

Der Waldbereich, in dem ich mich jetzt befand, symbolisierte mir, dass sich, nach dem Überwinden von Hindernissen und dem Vertrauen in seine eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Welt offener und freier vor einem zeigt, denn ich fand mich in einem wenig bewachsenen Waldstück, ohne Dickicht und Hindernissen, wieder. Am Ende des Waldes eröffneten sich mir weite Felder und etwas weiter entfernt konnte ich ein paar Einfamilienhäuser ausmachen.

Ich zückte mein Handy und machte Fotos von der neuen Umgebung, dem zurückgelegten Weg und machte akrobatische Verdrehungen, um meine dreckige und nasse Jeans abzulichten. Das hätte ich mir aber auch sparen können, denn ich entschied spontan, angesichts dessen, dass mein Hinterteil fast einfror, die Jeanshose lieber doch auszuziehen (keine Sorge, ich hatte eine Leggins darunter an, wobei die war auch nass, aber das war erträglich). Ich hing meine Hose an einen Baum und machte davon auch ein Erinnerungsfoto.

Als ich das Handy wegstecken wollte, sah ich, dass mich eine ehemalige Trainingskollegin, mit der ich vor drei Jahren in einem Jugendprojekt zusammenarbeiten durfte, angerufen hatte. Ich rief zurück und – ich weiß, es ist kaum zu glauben – sie erzählte mir, dass sie mit mir reden wollte, weil sie mich fragen wollte, ob ich Interesse daran hätte, Teil eines Projekts, in welchem arbeitsuchende Menschen auf den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt im Einzelcoaching vorbereitet werden, zu sein. Ich war (fast) sprachlos. In den vergangenen Tagen bereitete mir mein beruflicher Wiedereinstieg immer wieder Sorge und nun erhalte ich, mitten im Wald, nach dem Erleben meines persönlichen Abenteuers (das viel mehr in mir bewirkte, als diese Geschichte zu erzählen vermag), diesen Anruf! Wir vereinbarten, dass sie meine Telefonnummer an die Projektleitung weitergeben könne, um ein erstes Kennenlernen zu ermöglichen. Und – du wirst es wieder nicht glauben – die Projektleitung rief mich tatsächlich auch gleich direkt nach dem Gespräch mit meiner ehemaligen Kollegin an.

Da stand ich nun, nachdem mich eine innere Stimme in dieses Abenteuer geführt hatte, mitten im Wald und hatte ein echtes Jobangebot in der Tasche! Leider kann ich den Job angesichts der noch notwendigen Operation zur Entfernung des Implantats nicht sofort antreten bzw. das Unternehmen kann mich aufgrund dessen nicht sofort einstellen, doch sie sind an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert! Es ist schon wahrlich interessant, was alles passieren kann, wenn man loslässt, vertraut und der inneren Stimme folgt, nicht wahr?

Wie ging mein Waldspaziergang, ähm Waldabenteuer, denn zu Ende?

Mittlerweile hatte mein Mann versucht, mich telefonisch zu erreichen (ich war bereits über zwei Stunden unterwegs gewesen, es wurde schon dunkel und er begann, sich Sorgen zu machen), was ihm nicht gelang, weil ich ja wegen eines möglichen Jobs telefonierte (ich kann es immer noch nicht fassen). Ich rief ihn nach den Gesprächen umgehend zurück, während ich quer über die Felder hatschte und versuchte, mir darüber klar zu werden, wo ich denn überhaupt war. Nach einer Weile hatte ich mich orientiert und ich bat meinen Mann, mich abzuholen, denn die nasse Leggins auf meinem Allerwertesten war dann doch etwas unangenehm und mit der nassen, zusammengefalteten Jeanshose quer durch den Ort zu meinem Haus zu latschen, hätte vielleicht zu komischen Gerüchten geführt. Hahaha!

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Margit Polly

    Wunderbare Impressionen, ein Weg zum neuen ICH….feinfühlig geschrieben…. Die Stimmung hat mich eingefangen und mich zum Denken inspiriert….vielleicht spüren wir gerade jetzt alles Urwissen, weibliche Stärke, die Kraft der Natur…fragen wir uns einfach“ was sonst ist möglich…“ 🙂

    1. Alexandra Glander

      Liebe Margit,
      vielen Dank für dein wundervolles Feedback. Ja, ich fühle, dass jeder Mensch auf diesem Planeten in großer Veränderung ist, weil sich der Planet selbst in einem immensen Wandel befindet. Und all jene, die jetzt vielleicht vieles noch nicht so in der Tiefe wahrnehmen und mit ihren Sinnen – auch den unbewussten, intuitiven – sich, sozusagen, noch auf der Oberfläche befinden, werden folgen. Ich bin überzeugt davon, vieles zeigt sich auch schon, wenn aktuell noch überlagert von den harschen, gewaltträchtigen und autoritären Strukturen, doch der Wandel ist in vollem Gang. Urwissen und Urvertrauen – die Wörter der aktuellen Zeit.

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