Ich bin eine Frau der Beobachtung, das war schon immer so. Schon als Kind saß ich lieber ein wenig abseits und observierte das mehr oder weniger rege Treiben und bildete mir meine eigene Meinung. Meist war ich mit dem, was ich im Hinsehen, Hinhören oder Mitfühlen wahrnahm, weit abseits der Norm und war ich einmal mutig und äußerte mich, kam es fast immer vor, dass ich verbal attackiert oder niedergemetzelt wurde, was dazu führte, dass ich eher schwieg und mich mundtot machen ließ. Das Universum hatte wohl vergessen, mich mit einem starken Selbstbewusstsein, offenem Kampfgeist und unbeirrbarem Mut auszustatten, obwohl ich heute glaube, dass dies in meinem Lebensplan – vielmehr meinem persönlichen Lehrplan – bewusst so vorgesehen war, denn dadurch konnte ich in der stillen Beobachtung stärker werden und zu der erwachsen, die ich heute bin.
Das Betrachten alltäglicher Dinge und dem Lauschen herkömmlicher Worte aus einem anderen Blickwinkel als es normierte Menschen tun (ja, ich weiß, viele sehen sich selbst nicht so, sind aber tatsächlich einfach nur in eine Norm gepresste Figur, wobei ich mich auch überhaupt nicht ausnehme, schließlich lebe ich ja auch in diesem System und muss meinen Weg darin finden und gehen, dementsprechend agiere ich mitunter ebenso normkonform wie alle anderen), hilft mir dabei, Dinge, die um uns herum geschehen und die uns weisgemacht werden, zu hinterfragen.
Eines der auffälligsten Dinge unserer Zeit ist (aus meiner Sicht), dass uns permanent weisgemacht wird, wir würden im Mangel leben. Egal, wohin man sieht oder was man hört, die Bildung des Mangelbewusstseins ist zur Königsdisziplin jener geworden, die es mit Sicherheit besser wissen. Ob es sich nun um die Empfehlung handelt, eine Versicherung abzuschließen, um für den Fall der Fälle einen Schutz zu haben und um versorgt zu sein oder ob man sich mit alltäglichen und haltbaren Lebensmitteln bevorraten soll, weil die Lieferketten angesichts der globalen Lage zusammenbrechen könnten. Vom Geldsparen reden wir erst gar nicht, das haben die meisten von uns schon mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Wir werden mit Nachrichten über Umweltkatastrophen überschwemmt, deren wichtigste Botschaft die Information über umfangreiche Ernteausfälle und der damit verbundenen, angeblich notwendigen, Preiserhöhungen, zu sein scheint. Soll ich jetzt auch noch vom Klimawandel oder vom Erderschöpfungstag und dem Wahnsinn, der damit einhergeht, schreiben oder wollen wir über die Notwendigkeit von energieraubender und sklavenhafter Arbeit reden, die der einzige Weg sein soll, nicht vollends im Ruin zu landen? Ich denke, Dir fallen jetzt selbst genug Dinge ein, die darlegen, wie ausgeklügelt unser Mangelbewusstsein genährt und gestärkt wird.
Im Mangel zu sein hat schon was und geht mit dem Opfersein einher. Auch ich gehöre zu jenen, die sich darin gesuhlt haben, so viele Dinge habe ich in meinem Leben nicht getan (und tue ich noch immer nicht, bewusstes Wahrnehmen und darauffolgendes Verändern der eigenen Gewohnheiten ist nun einmal ein Prozess), weil ich es mir nicht leisten konnte (oder dachte, es nicht zu können), weil ich Angst hatte, noch mehr zu verlieren oder von dem Wenigen, das ich noch hatte, noch weniger zu haben. Ich war stets das Opfer der Umstände und des Mangels. Und immer, wenn ich ganz unten war und mich selbst bemitleidete, dass ich doch so wenig habe und darauf achten müsse, wenigstens das zusammenzuhalten, sagte mir jemand, dass ich doch zum Jammern aufhören soll, denn es gibt unzählige Menschen, die noch weniger haben und denen es wesentlich schlechter geht als mir. Was für eine Taktik! Wenn jemand noch weniger vom Wenigen hat, bleibt dann unweigerlich wieder zu wenig übrig. Dabei ist nichts von der Wahrheit weiter entfernt als das.
Wenn ich in der Natur bin, diese betrachte und auf mich wirken lasse, sehe ich keinen Mangel. Wenn ich Produkte der Natur genieße, fühle ich die Fülle des Lebens. So auch an jenem Morgen, an dem ich mir eine Zitrone auspresste.
Anfangs war ich genervt, weil sich das Auspressen aufgrund einer Unmenge an Kernen, die diese Zitrone in sich trug, mühsamer als sonst gestaltete. Als ich fertig war und die Schale von der Presse weghob, war ich erstaunt: Da waren wirklich viele Kerne!
Ich klaubte jeden einzeln ab und legte sie auf einen Plastikdeckel, letztlich lagen fünfunddreißig Stück davon vor mir und ich dachte nur: „Wie geil ist das denn? Es ist schon komisch, dass uns immer gesagt wird, es gäbe nicht genug, dabei habe ich hier von einer einzigen Zitrone fünfunddreißig Kerne liegen und aus jedem einzelnen kann ein Zitronenbäumchen entstehen, auf welchem eine Vielzahl an Zitronen, von der jede eine Menge an Kernen in sich haben kann, wachsen können. Das ist doch der pure Überfluss, das ist natürliche Fülle in Perfektion!“
Hast Du darüber auch schon einmal nachgedacht?
Wie viele Kerne trägt ein Apfel in sich und wie viele Apfelbäume kann man damit pflanzen?
Wie viele Kerne sind in einem Zucchino, einer Melanzane oder einer Tomate und welchen Gemüsevorrat könntest Du Dir im kommenden Jahr aufgrund dessen anlegen?
Wie viele Samen kannst Du einer einzigen Blume entnehmen, um auf Deinem Balkon oder in Deinem Garten ein Blütenmeer zu erschaffen?
Unser menschliches Dasein ist geprägt vom „Zuwenighaben“ oder „Zuvielverbrauchen“. Es wird uns schon in der Kindheit eingebläut, auf dies und jenes zu achten, zu sparen, zu horten und stets darauf Bedacht zu sein, nicht zu wenig von etwas zu haben, was dazu führt, dass man das Gefühl hat, alles im Leben sei stets mangelhaft. Zumindest war das seit meinem ersten Atemzug schon so und ich kenne viele Menschen, die in dieser oder einer ähnlichen Form ihr Dasein bestreiten.
Doch ist es das, was die Natur uns lehrt?
Eine Leidenschaft von mir als Kind und junge Erwachsene war es, Samen von Blumen zu sammeln. Heute noch habe ich kleine Dosen und Gläser zu Hause mit selbst gesammelten Samen von Tagetes und Löwenmäulchen. Auch Kerne von Obst hob ich auf, ich war immer fasziniert, wie viele davon in einem einzigen Stück vorhanden sind. In den vergangenen Jahren keimte diese Passion wieder auf und heuer wuchsen in meinem Schrebergarten fast ausschließlich Gemüsesorten aus eigener Sammlung. Ich hatte heuer z. B. vier Zucchini-Samen gesät und mittlerweile habe ich bereits über zwanzig Zucchini geerntet, dabei ist die Saison noch nicht einmal vorbei!
Ich bin zutiefst dankbar, dass die Natur uns all das schenkt, was wir benötigen, um leben zu können. Es ist alles da, wir haben alles zur Verfügung. Es gibt keinen Mangel, es gibt kein Zuwenig. Die Natur schenkt uns alles, was wir brauchen. Wir müssen es nur sehen. Wir müssen wieder lernen, es zu begreifen und damit umzugehen. Wir haben uns von der Natur, vor allem von unserer Natur, entfernt, indem wir uns industrialisierten und technologisierten und uns instrumentalisieren ließen. Ist es das, was wir wollen und warum wir hier auf Erden leben?
Ich bin nicht undankbar, was unseren Fortschritt oder unsere Entwicklung betrifft. Nein, das bin ich nicht, ganz im Gegenteil. Ich bin dankbar, dass wir all das haben, was wir haben und damit einher natürlich auch all das Technische und Digitale, sonst könnte ich jetzt nicht hier am Computer sitzen und mein Erleben, meine Gedanken und meine Gefühle mit Dir teilen. Doch ich hinterfrage die Auswüchse und das Ausmaß der Welt, in der wir heute leben. Und ich halte fest, dass niemand von uns im Mangel leben muss, weil es diesen Mangel gar nicht gibt. Das zeigt uns die Natur, klar und deutlich, tagtäglich.
Was die Natur uns zudem vorlebt, ist bedingungsloses, wertfreies und unverbindliches Teilen. Die Natur gibt, die Natur ist. Diesem Beispiel folgend möchte ich die Zitronensamen jener Zitrone, die mich zu diesem Artikel inspirierte, zum Leben erwecken. Ich werde sie, nachdem ich sie für ein paar Wochen trocknen habe lassen, einpflanzen. Ich werde sie hegen und pflegen, wie Mutter Natur es seit jeher für uns tut und sie dann, wenn sie groß genug sind, weitergeben. Ich hoffe, dass ich dem Vorbild von Mutter Erde folgen kann und in mir ihre Kraft steckt, um allen Zitronenbabys erfolgreich behilflich zu sein, früchtespendende Bäumchen zu werden.
Zum gegebenen Zeitpunkt verfasse ich einen weiteren Blogartikel und jene, die sich daraufhin bei mir melden, erhalten von mir ein Zitronenbäumchen geschenkt. Möge dann jedes Bäumchen für jene, die meinen, im Mangel zu sein und damit leben zu müssen, zum Symbol für Fülle und Überfluss werden, aber vielleicht reicht auch schon diese Geschichte und immer, wenn Du eine Zitrone siehst oder verzehrst, erinnert sie Dich daran, dem Mangelbewusstsein in Dir ein Schnippchen zu schlagen und die Fülle zu sehen, in der wir wahrlich leben und die unser wahres Sein ist.