Heute, am 21.08.2021, feiert mein Mann Hans Peter sein halbes Jahrhundert plus eins und wir sind seit einem Vierteljahrhundert ein Paar.
In mir steigt das Bild einer überdimensionalen Achterbahn auf in der wir, mein Mann und ich, in einem orangen und auf Hochglanz polierten Flitzer sitzen und uns in der Pause, die uns gerade gegönnt wird, die vom Fahrtwind zerzausten Haare zurechtrichten.
„Lass mich das für dich machen“, sagt mein Mann, streicht mir liebevoll durchs Haar und lächelt mich sanftmütig an. Ich berühre seine Hand und nehme etwas wahr, was ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe. Unsere persönliche Hochschaubahn, die sich vor meinem geistigen Auge klar und deutlich zeigt, hatte es ganz schön in sich und wenn ich zurückblicke, haben wir einiges erlebt und dass wir auf dem Weg hierher noch immer einträchtig in diesem Wagen sitzen, grenzt an ein Wunder.
Ich schaue zurück auf unsere Berg- und Tal-Bahn und sehe, dass vor jedem Auf und jedem Ab eine Ruhestation war. So eine, in der wir uns eben auch befinden. Jeder von uns hatte bis zum heutigen Tag immer die Gelegenheit, das Gefährt, das wir zu Beginn unserer Reise als das unsere wählten, zu verlassen.
Ich bin nicht nur einmal ausgestiegen, das kannst Du mir glauben. Egal, ob die Bahn vor uns nach oben oder nach unten führte, ich musste meinen Platz verlassen, weil ich das Gefühl hatte, weder das eine noch das andere aushalten zu können. Zu intensiv fühlte sich das Leben für mich an, zu massiv spürte ich die Auswirkungen dessen, was uns rüttelte und schüttelte. Mein Mann hingegen stand nie auf – ob aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit kann ich nicht sagen -, er hatte seinen Platz gewählt.
Ich für meinen Teil fühle mich heute ein wenig beschämt, dass ich so viele Male, vor allem vor der großen Talfahrt, die uns über ein Jahrzehnt begleiten sollte, meinen Platz jemandem anderen zur Verfügung stellen wollte, obwohl in den Augen meines Mannes – und in seinem Herzen – niemals jemand anderes diesen hätte einnehmen können, geschweige denn, dass er es gewollt hätte. Lieber hätte er die Fahrt allein angetreten, so wie ich es eigentlich für mich wünschte. Doch nie fuhr ein neuer Untersatz in die Station ein, niemals war da eine Leiter, über die ich die Plattform, auf der ich stand, hätte verlassen können, kein einziges Mal tauchte eine neue, nur für Alexandra bestimmte, Achterbahn auf. Und immer, wenn ich da draußen stand und auf meinen Mann schaute, der mich mit seinen dunkelbrauen, tiefgründigen Augen – in die ich mich damals heillos verliebte – fragend anblickte, fühlte ich etwas in mir, das mich veranlasste, wieder einzusteigen und das mir die Zuversicht schenkte, dass unsere gemeinsame Fahrt doch nicht zu Ende war.
Diesen massiv kräfteraubenden und energiefressenden Abschnitt mit seiner rasanten Geschwindigkeit, den Steilkurven, der Schroffheit und Abfälligkeit und dem harten Wind, der drohte, die Flammen unserer Liebe zu ersticken, haben wir nun scheinbar hinter uns, denn wir machen momentan einen Zwischenstopp und kommen langsam wieder zu Atem. Zum ersten Mal seit langem habe ich nicht das Gefühl, meinen Sitz verlassen zu wollen oder zu müssen. Nichts in mir drängt nach einem Loslassen, nach einer Trennung oder nach Entfernung. Ich warte auf kein anderes Gefährt, keine andere Hochschaubahn, keine Leiter, über die ich dem Entfliehen könnte, was ich wählte. Ganz im Gegenteil. Ich harre der Dinge, warte voller Vorfreude auf den Neustart und auf das, was vor uns liegt.
Ich sehe meinen Mann, der noch immer versucht, seine zerzausten Haare in den Griff zu bekommen, seit langem wieder bewusst an. Sein Gesicht ist gezeichnet von dem, was hinter uns liegt, sein Herz schlägt hörbar schnell, sein Atem beruhigt sich nur langsam. Ich sehe in seine dunkelbraunen, warmherzigen, liebevollen Augen und denke bei mir: „Wo wäre ich heute ohne ihn?“
Dankbarkeit, Anerkennung, Respekt, Wertschätzung und ein tiefes Gefühl von Liebe durchströmen mich.
„Wer wäre ich heute ohne ihn?“
So oft dachte ich, dass wir es nicht schaffen werden, dass ich raus muss, dass ich nicht mehr dort sein kann, wo ich gerade mit ihm war, dass ich einfach nur meine eigene Wohnung und mein eigenes Leben haben will. Doch tief in mir war da etwas, dass mich aufhielt, alles hinzuschmeißen. Es flüsterte mir in den dunkelsten und schlimmsten Stunden leise zu: „Ihr seid füreinander bestimmt, ihr seid ein Team, Eure Liebe ist einzigartig und ewig.“
Heute, an seinem halben Jahrhundert plus eins und unserem Vierteljahrhundert als Paar, fühle ich den Funken unserer Liebe mehr denn je und ich spüre Zuversicht, dass, was auch immer die Achterbahn, die vor uns liegt, für eine Gestalt annimmt und für uns bereithält, wir Schulter an Schulter bewältigen werden. Ich werde mein Bestes geben, die Hochs vereint mit meinem Mann zu genießen und die Tiefs miteinander durchzustehen, denn das ist unser Leben.
Lieber Hans Peter, Du bist nicht nur mein Ehemann und der Vater unserer Kinder. Du bist mein bester Freund, mit dem ich über alles reden kann. Du bist mein Bruder, mit dem ich alles teile. Du bist mein Geliebter, der mich beschützt und mir Wärme schenkt. Du bist mein Lebensmensch, Du bist meine Welt. Ich danke Dir, dass Du mich sein lässt, wie ich bin. Du lässt mich wachsen und verleihst mir nicht nur Flügel, sondern animierst mich, zu fliegen, während Du mir die Wurzeln schenkst, die ich an manchen Tagen so dringend brauche. Ich kann Dir oft nicht zeigen oder sagen, wie tief ich für Dich empfinde und wie dankbar ich bin, dass Du an meiner Seite bist, doch hier und heute und vor aller Welt möchte ich Dir sagen, dass ich Dich wahrlich liebe.
Mein geliebter Ehemann, Freund, Bruder, Partner: Ich freue mich auf unsere weitere Achterbahnfahrt, von der ich mir für uns wünsche, dass sie nicht mehr so intensiv wird, wie sie einst war, doch wenn, dann stehen wir das gemeinsam durch und richten uns am Ende wieder gegenseitig die Haare.